Quantcast
Channel: Nikola Hotel » Künstler
Viewing all articles
Browse latest Browse all 15

Die Melancholie des Künstlers oder ›Wer hat Angst vor Traurigkeit?‹

$
0
0

(Beitrag vom 24. November 2010)

Wer hat Angst vor Traurigkeit?
In unserer Welt der Wellness, Happiness und des positiven Denkens, in der man Bücher kauft, die Glück versprechen, die mit Kleeblättern dekoriert sind und dauergrinsende Gesichter zeigen, fühle ich mich sehr einsam.
Ich habe es verpasst, mir so ein Glücksabo zu bestellen. Ich habe aber auch kein verbrieftes Anrecht auf persönliche Glücksgefühle. Es steht weder in der Bibel, noch im Grundgesetz, noch in meinem Terminplaner, dass ich glücklich sein muss.

Manchmal ist meine Welt nicht zart rosé und puderzuckerbestäubt. Manchmal ist meine Welt grau und trist, mit kahlen Bäumen, mit Kälte, mit Nebel, leerem Kühlschrank, ohne Musik und ohne Leselust. Manchmal ist das Leben so, dass man nicht aufstehen möchte. Dass man statt Dauergrinsen nur noch Dauermüde kennt. Dass jedes Wort zu viel und doch zu wenig ist.
Manchmal ist das Leben einfach nur Sehnsucht und Seufzen. Das muss keinen Ursprung haben, keinen konkreten Anlass, es genügt, dass der Zweig vor meinem Fenster ganz tief nach unten hängt.
Ist das schlimm? Werde ich schon angezählt?
Muss ich mich jetzt in Selbstmitleid ergehen? Pillen schlucken? Süßigkeiten zwecks Endorphinausschüttung futtern? Oder gar einen Termin zur Fettabsaugung vereinbaren?

Eigentlich ist es doch Angst, die einen dazu treibt, dem Glück hinterher zu laufen. Die Angst, das bereits erreichte, nicht festhalten zu können. Die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, einmal nicht als Gewinner hervorzugehen. Schon seit Hippokrates fürchten sich die Menschen vor der ›schwarzen Galle‹ und bekämpften sie mit Blutegeln, heißen Bädern, Bewegungskuren, Hypnose, Laudanum und Opium.

Dabei sind unsere Glücksgefühle nicht mehr als Fastfood. Wir konsumieren sie täglich.
Und wir verschenken die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis, wenn wir der Tristesse entfliehen möchten.
Eric G. Wilson schreibt in Unglücklich glücklich, dass die größte Tragödie ein Leben ohne Tragödie sei. »Nur das Bejahen der Traurigkeit erfüllt die Seele.«
Es ist ein Fehler, die Traurigkeit zu dämonisieren.
»Wir müssen uns Traurigkeit nicht mehr zu kraftloser Depression oder manischer Halluzination zurechtlügen. Stattdessen lassen wir die gedankenvollen Stimmungen zu, die ihre Hoffnung in das setzen, was unter den Oberflächen verborgen ist. Wir ertragen unsere Unvollkommenheit, denn sie ist die Sehnsucht nach dem Ganzen.«

Traurigkeit ist nicht kraftlos oder unproduktiv. Vor einiger Zeit stellte ich mir bereits die Frage, ob Künstler glücklich sind, oder ob die Kreativität uns unglücklich macht. Jetzt fand ich bei Wilson die Antwort: »Kreativität macht uns nicht unglücklich – Unglück macht uns kreativ. (…) Blühen wurzelt im Dunkel. (…) Der kreative Funke entzündet sich in der Finsternis.«
Und auch Hartmut Böhme (Kultur- und Literaturwissenschaftler) stellt in seiner Kritik der Melancholie und Melancholie der Kritik fest: »Die großen Melancholiker seit der Renaissance haben nichts mit jener klagenden Resignation und handlungsgehemmten Apathie zu tun, in der sich heute Literaten gern lamentierend ergehen. Gewiss hält er sich in Distanz zur gesellschaftlichen Praxis. Aber er ist produktiv.«

Emily Dickinson sagt: »Große bleibende Kunst ist eine »Gabe von Verrückten«. Zeitlose Schönheit muss gebrochen, gedrückt, gepresst werden, bis ihr innerstes Leben hervorquillt.«

Wer waren diese großen Melancholiker? Sicher nicht nur Künstler, aber überproportional viele Künstler, wie u.a. Franz Kafka, Ernest Hemingway, Hans Christian Anderson, Walther von der Vogelweide, Jean-Jacques Rousseau, Nikolaus Lenau, Mary Shelley, Victor Hugo, Leo Tolstoi, Virginia Woolf, Tennessee Williams, William Faulkner, Marcel Proust, John Keats, Goya, van Gogh, Michelangelo, Paul Gauguin, Edvard Munch, Beethoven, Mahler, Händel, Rossini, Schumann, Tschaikowski, Chopin aber auch Abraham Lincoln, Winston Churchill, Isaac Newton, Sigmund Freud, C.G.Jung, Friedrich Nietzsche, John Lennon, Cary Grant, Florence Nightingale und Martin Luther. Alles überaus produktive Menschen, die oft sehr unter ihrer Melancholie litten.

Zum Beispiel beschreibt Beethoven im Heiligenstädter Testament seinen seelischen und körperlichen Zustand mit großer Offenheit. Er beklagt seine zunehmende Taubheit, seine Isolation, seine Gedanken zum Selbstmord, vor dem ihn nur seine Kunst bewahrt, weil es ihm unmöglich erscheint, diese Welt zu verlassen, bevor er nicht alles vorgebracht habe, was er in sich fühlt. So komponierte er auch einen Satz im sechsten Streichquartett mit dem Titel La malinconia (die Melancholie).
Händel komponierte während einer Phase größter Melancholie (1741) in nur 24 Tagen den Messias. Eine Zeit, in der er verarmt und krank in einem heruntergekommenen Haus lebte, die ständige Angst im Nacken, im Schuldturm zu landen.

Böhme: »Er [der Genius der Melancholie] fordert Mut für die Zeichen der Angst und Bedrohung, ein Wissen ohne Beschönigung, ein Gefühl ohne Verdrängung. Hierin läge vielleicht seine produktive Kraft: eine Form und eine Haltung im Blick des Todes zu finden. (…) die ›Todesfuge‹ als Signum unlösbarer Trauer und zugleich als Klang des verwandelnden Lebens.«

Der Klang des verwandelnden Lebens.
Wie der Phönix aus der Asche, der sich zum Sterben in sein Nest zurückzieht, verbrennt. Und aus den Flammen ein Ei gebiert, einen neuen Phönix.
Wilson: »Melancholie und Erkenntnis sind eng miteinander verbunden. (…) Zerfall ist der Schlüssel zur Verwandlung.«
Auch der Psychiater C.G.Jung kam nach einer schwierigen Phase der Melancholie zu der Erkenntnis: »Die Neurose – Nervosität, Erregtheit, Unbehagen – spielt in der Ausbildung der Identität eine entscheidende Rolle.«

Ich habe das Gefühl, dass ich erst jetzt erwachsen werde. Wie viel Zeit und Energie habe ich darauf verschwendet, mich gegen die Melancholie zu wehren? Wie viel Passivität mir aufgezwungen?
In mir ist so viel davon, aber nie habe ich darin eine Stärke gesehen. Das ist jetzt anders. Ich werde mich nicht mehr dagegen sträuben melancholisch zu sein. Und ich zögere nicht mehr (im Gegensatz zu Françoise Sagan, Bonjour tristesse) »diesem fremden Gefühl, dessen sanfter Schmerz mich bedrückt, seinen schönen und ernsten Namen zu geben: Traurigkeit.«

Diese Molltöne komponieren mir das Leben erst zu einer Ganzheit. Gleich der Kombination von Fuge und Präludium. Starre und Freiheit. In dieser Traurigkeit erkenne ich nicht nur den Tod in der Natur, sondern mir wird auch die ganze Schönheit erst bewusst. So wie auf einem abgestorbenen Baumriesen ein neuer Pilz erwächst, der Tod neues Leben gebiert, ist mir die Endlichkeit nun kein Feind mehr.
Das hat nichts mit Selbstmitleid zu tun oder Faulheit. Ich bin trotzdem produktiv. Aber ich muss mich nicht zwingen zahnpastalächelnd durch die Straßen zu laufen. Auf meiner Stirn muss nicht stehen: »Ich bin ein positiv denkender Mensch, ich bin ein Gewinner.«
Ich möchte mich zurückziehen dürfen und traurig sein. Intensiv.
Ich habe keine Angst vor Traurigkeit.

Liebe Grüße
Nikola


Viewing all articles
Browse latest Browse all 15