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Mein Herr Muse – ein Neandertaler

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Schreib das verdammte Buch!, sage ich mir seit Tagen und kann mich doch nicht überwinden die ersten Sätze hinzutippen. Vor allem, da ich genau weiß, dass die ersten Absätze sowieso Murks sein werden, bis ich mich erst einmal warm geschrieben und meine Erzählstimme wieder gefunden habe.
Wo ist sie hin?
Und kann ich sie irgendwie hervorlocken?

Wann finde ich endlich die Kraft, bei Herrn Muse den Langhaarschneider anzusetzen? Er sieht aus wie ein Neandertaler, und er benimmt sich auch so. Neulich erwischte ich ihn dabei, wie er sich mit fettigen Fingern an meinem Kühlschrank zu schaffen machte. Er fischte sich einen rohen Hering aus der Tupperdose und biss ihm herzhaft den Kopf ab. Bäääh!
Anschließend (ich war noch im Schockzustand und unfähig einzugreifen) vertilgte er ein Glas Marmelade (mit Zunge und Fingern!), stopfte noch ein paar Scheiben Wurst hinterher und kippte sich die Milch direkt aus der Tüte in den Schlund.
Muss ich extra erwähnen, welche Geräusche er danach von sich gab?
Jedenfalls erlöste mich ein grollender Rülpser aus meiner Erstarrung und ich las ihm gehörig die Leviten. Ob er denn nicht wüsste, wie ungesund das wäre? Ganz abgesehen davon, dass man so vollgestopft überhaupt nicht mehr denken kann!
Und, was soll ich sagen, eine halbe Stunde später wand er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Teppichboden.

Also so kann ich nicht arbeiten!

Im Moment sitzt er gerade auf dem Sofa und pafft. Seine Finger sind gelb und seine Zähne auch. Er hat die Beine leger übereinandergeschlagen und träumt. Aus seinem Mundwinkel rinnt ein Speichelfaden.
Ich habe gute Lust ihm eins überzubraten.
Was mich davon abhält?
Irgendwie, ich verstehe mich selbst nicht, mag ich ihn. Er ist ein klasse Typ. Zumindest, wenn er sich die Zähne geputzt hat und frische Klamotten trägt. Er liebt klassische Musik genauso wie ich und er träumt viel – meist sehr romantisches Zeug. Und er hat da so eine Glut in den Augen. Die ist – wow – die macht mich einfach sprachlos. Ich sollte mich vermutlich einmal ernsthaft mit ihm unterhalten, schließlich ist er nicht hohlköpfig, sondern nur stinkendfaul.
Da fällt mir ein: Es gibt da ein Mittel, mit dem ich ihn vielleicht aus der Reserve locken könnte. Ja, es hat doch schon einmal funktioniert! Vor Monaten habe ich ihm ein paar Kopfhörer aufgesetzt und sein müdes Hirn mit Musik von Maksim Mrvica beschallt. Damals ist er fast explodiert vor Energie – ernsthaft!
Ich habe da eine CD, die er noch nicht kennt, ich werde sie ihm gleich einmal vorspielen. Maksim pur, da muss er einfach reagieren!

»He, Musenkerl! Komm mal her! Guck nicht so genervt, ich habe da etwas für dich! Nein, keine Arbeit – keine Angst!«
Ich kreuze die Finger. Hoffentlich erwischt er mich nicht!
»Du bist doch ein sehr leidenschaftlicher Kerl, oder?«
Da! Ich kann ein Glitzern in seinen Augen erkennen. Mein Gott hat er lange Wimpern!
»Was hältst du von ein bisschen Musik? Victory zum Beispiel?«
Er lächelt. Oh Himmel, wieso lächelt er plötzlich so?
»Ww-wenn d-du willst, dann gebe ich dir meinen mp3-Player.«
Schluck. Jetzt guckt er ganz verwegen – fast wie ein Pirat. Mir werden die Knie weich.
»N-nur w-wenn d-du willst. Ich dachte bb-bloß so.«
Ich drücke ihm das Abspielgerät in die kräftigen Hände (wenn er wollte, könnte er echt zupacken) und flüchte mit dem Laptop in die Küche.
Hoffentlich bereue ich es nicht …


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